aussiedler
[ lüstige Geschichten aus dem Leben von Aussiedlern]
 
Ein Märchen über Aussiedler

Friedrich Gramm kam mit dem Begriff "Aussiedler" nicht zurecht.

Was bedeutet das Wort "Aussiedler", könnte Gramm sich denken - so etwa wie es in seinem Langenscheidt-Wörterbuch steht: aussiedeln - die Bewohner eines Gebiets veranlassen oder dazu zwingen, sich an einem anderen Ort niederzulassen. Er wusste bloß nicht genau, um welches Aussiedeln es sich bei ihm handelt.

Heißt er nun ein Aussiedler, weil sein Vorfahr Jakob Gramm im 19. Jahrhundert aus der Gegend bei Stuttgart nach Georgien auf der Suche nach besserem Leben und eigenem Land ausgewandert ist? Oder war er so einer, weil die Familie von seinen Eltern am Anfang des zweiten Weltkrieges aus dem deutschen Dorf Weinberg in der Nähe von Tbilisi, wo er geboren wurde, in die weite kasachische Steppe vertrieben worden ist? Oder kommt diese Bezeichnung daher, dass er Ende der neunziger nach Deutschland gekommen ist?

Das Ganze war eigentlich noch kniffliger, weil, offiziell gesehen, Gramm ein "Spätaussiedler" war. Dieses "spät" klang irgendwie negativ, wie "zu spät" und brachte Gramm auf Gedanken, es hätte etwas in seinem und seinen Vorfahren Leben eher passieren sollen. Musste nun sein Urgroßvater noch eher losmachen und nicht bis 1860 warten? Hätte Stalin noch vor dem Krieg den Befehl für Verschleppung der Deutschen von Kaukasus abgeben müssen? Sollte Gramm gleich nach Perestroika oder noch davor nach Deutschland kommen?

Zu seinem Staunen fragte keiner von Einheimischen danach, wenn er sich als ein "sogenannter Aussiedler" vorstellte. Sie schienen es alle zu wissen und vielleicht könnte Gramm sich mal bei ihnen danach erkundigen. Er hätte das auch gemacht, wenn er selber nicht zu diesen Spezies angehörte, was das Ganze zu einer peinlichen Angelegenheit für ihn machte.

So kam es dazu, dass als seine siebenjährige Enkeltochter ihn fragte: "Opa, wer sind denn Aussiedler?", wusste Gramm nicht, was er ihr erzählen sollte. Er hielt gerade in seinen Händen die Bild-Zeitung und kämpfte durch die Schlagzeilen durch. Unter dem Titelartikel "Untergang Deuschlands: was bringt die Deutschen zuerst um - mörderische Sonne oder Frau Kanzlerin?" stand ein Photo von der nackigen Susi aus Potsdam. Als die Enkelin ins Zimmer hereinkam und ihn mit ihrer Frage überraschte, versuchte er die Zeitung so auf den Tisch zu legen, damit das nicht jugendfreie Photo von Susi nicht zu sehen war.

Gramm runzelte die Stirn. "Die Aussiedler, die kommen...", fing Gramm an und wußte gleich nicht weiter. "Aus Siedler?", fragte das Mädchen. "Ganz genau!", Gramm war ihr für diesen Tipp sehr dankbar. "Es war so. Es gab mal einen schönen Ort, wo ein fröhliches Volk glücklich lebte. Dieser Ort hieß Siedler und dort wohnten auch unsere Urgroßeltern". "Hattest du auch einen Großvater?", fragte die Enkelin. "Ja, natürlich", antwortete Gramm und fuhr fort: "Sie machten Wein, buken Brot und zogen ihre Kinder groß."

"Eines Tages kam aber Not in das Dorf, sie zwang viele sich an einem anderen Ort niederzulassen, weit weg von der Heimat. Dort fingen unsere Großeltern ein neues Leben an, bauten neue Häuser, pflanzten neue Weinstöcke und bestellten neue Felder. Sie konnten wieder in Freude leben, aber das Unglück ließ nicht lange auf sich warten. Es zwang sie wegzuziehen und ...". "Sich an einem anderen Ort niederzulassen?" - riet die Enkeltochter. "Ja, und dann wiederholte sich die Geschichte wieder".

Das Mädchen schaute Gramm in die Augen und dann, nach einer kleinen Pause, fragte: "Opa, werden wir auch bald wegziehen und uns an einem anderen Ort niederlassen?". "Nein, nein, natürlich nicht" - versicherte ihr Gramm, "wir sind endgültig angekommen". Sein Blick fiel dabei auf die Zeitung auf dem Tisch, wo die Abbildung der unheimlichen roten Sonne und ein Stück des braunen Schenkels von Susi zu sehen waren. Gramm könnte schwören, dass noch vor zwei Minuten ihre Beine nicht so dunkel ausgesehen haben.




© 2005-2006 aussiedler.blogspot.com

Powered by Blogger

Lüst über eine Geschichte aus deinem eigenen Leben zu schreiben? Mache mit!