aussiedler
[ lüstige Geschichten aus dem Leben von Aussiedlern]
 
Integrationstest [Beta]

Vor einigen Tagen klingelte bei uns in der Redaktion das Telefon und ein Mann, der sich als "ein hoher Beamte aus einem wichtigen Ministerium" vorstellte, fing gleich an über Integrationsprobleme von Russlanddeutschen zu sprechen. Es müsse was unternommen werden, so ginge es nicht weiter, nur die, die mitmachen, seien dabei. "Wie bitte, was?"

Wie es sich herausstellte, ging es um eine Bitte an uns. Die Redaktion sollte der Bundesregierung helfen, einen Test zu entwickeln, der den Integrationsgrad von Aussiedlern ermitteln kann. Unsere erste Reaktion war eine einstimmige Ablehnung, aber dann meinte einer unserer ältesten Redaktoren: "Besser wir, als jemand anders, die überhaupt keine Ahnung von der Materie haben".

So kam es zu einem Entwurf aus 15 Fragen, die Sie unten sehen können. Nehmen Sie sich doch 3 Minuten Zeit um den Test abzulegen und zu kontrollieren wie weit Sie eigentlich integriert sind.



 
Verwandlung I

Als Grigorij Samsonow eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem Deutschen verwandelt.

Er lag auf seinem stark behaarten Bauch und hatte nicht die geringste Lust die Augen aufzumachen. Neben sich hörte er seine Frau Erika leise schnarchen. Grigorij konnte nicht begreifen, warum das Ganze ausgerechnet ihn erwischen sollte. Er beschloß erstmal nicht aufzustehen und schlief gleich wieder ein. Als er dann zum zweiten Mal aufwachte, war dieses Gefühl, er wäre jetzt ein richtiger Deutscher noch stärker als bevor. "Verdammte Scheiße!" - brüllte er wütend in sein Kissen und stand mit einem Sprung auf.

"Was hast du denn?" - fragte ihn seine Gemahlin, die von seinem lauten Fluch auch wach wurde. "Schlaf schön weiter, mein Schatz" - sagte er. Nur der Blick auf das zu einer Grimasse verzogene Gesicht seiner Frau half Grigorij aus dem Staunen herauszukommen, in das ihn seine eigene Antwort versetzt hat. Nicht, dass er sonst immer morgens übel gelaunt war - die Tatsache, dass er diesen Satz auf Deutsch sagte, dazu noch so akzentfrei, wie sonst in seiner Umgebung nur die Deutschlehrerin Frau Tropf sprach, und mit so einer schönen "Sprachmelodie", von der die Lehrerin so oft schwärmte - diese Tatsache machte die beiden einen Augenblick lang wortlos.

Ohne Risiko anzugehen, noch etwas von sich zu geben, schlich sich Grigorij ins Badezimmer. Was er dort im Spiegel sah, zwang ihm so schnell wie möglich die Tür abzuschließen und die Jalousien an kleinem Fenster herunterzulassen.



 
Der Russlanddeutsche #1

Vom Tagesspiegel als Russlanddeutscher ernannte Gerhard Schröder dürfte jetzt wohl den ersten Platz in der Liste von den berühmtesten Aussiedlern aller Zeiten belegen.

Denn da ist noch der strategische Dienst, den Schröder als, nun ja, Russlanddeutscher seinem energiearmen Heimatland erweisen möchte: Russland hat die Energiereserven, die Deutschland braucht, langfristig, Tendenz steigend.

Damit verweist er auf den Platz 2 Vasili Krämer, der seit Jahren diese Liste angeführt hat. Am zweiten Tag seines Aufenthalts im Bundeserstaufnahmelager in Dranse verspeiste Vasili einen seltenen südafrikanischen Kronenkranich, der aus dem Berliner Zoo weggeflogen war. Am gleichen Tag wurde Vasili Krämer das Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik entzogen. Man schickte ihn unverzüglich mit einer Sondermaschine zurück in sein kasachiches Heimatdorf.

Wir freuen uns über jede journalistische Hilfe in unseren Anstrengungen die Russlanddeutschen etwas salonfähiger zu machen. Als nächstes prominentes Mitglied wird der gerade zurückgetretene Edmund Stoiber erwartet. Man wirft ihm die Unterstützung des vom Abramowitsch finanzierten Transrapid-Projekts für die Strecke Moskau-Magadan vor.

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Ach du Scheiße

"Sag nicht 'Scheiße', sage 'Mist'" - meinte die Kindererzieheren zu kleinem Alexander, als Maria Elbermann sich bei der Frau beschwert hat, ihr Enkelsohn flucht andauernd seitdem er in den Kindergarten geht.

Am Sonntag besprachen Elbermanns beim Mittagessen, ob es überhaupt möglich wäre, in Deutschland ein Kind so großzuziehen, dass es seinen noch winzigen, aus 'Mama' und 'Papa' bestehenden, Wortschatz nicht gleich mit den Fekalbegriffen bereichert. Am Ende der Diskussion stand fest - einem Kind Fernsehen zu verbieten und es nicht in den Kindergarten zu schicken wäre nicht im Sinne der Integrationspolitik der Bundesregierung.

An diesem Abend schaltete Maria ihren Fernseher auf SAT.1 um, wo in 'Nur die Liebe zählt' ein junger Mann in einen Aquarium mit Haien getaucht ist um die Liebesbotschaft seiner Freundin zu vermitteln, die neben der Glasscheibe des Aquariums saß. "Ach du Scheiße!" - sagte das Mädchen, als sie ihren Freund 'Ich liebe dich' auf den wasserdichten Kärtchen zeigen sah. "Ach du Scheiße!" - wiederholte sie, als eine neue Botschaft 'Willst du mich heiraten?' auf der Innenwand des Aquariums von ihrem Freund geklebt wurde. Und es war 'Ach du Scheiße', als Kai Pflaume mit 2 Kärtchen 'Ja' und 'Nein' plötzlich vor der jungen Frau stand.

"Sollte es nicht auf 'Ach du Scheiße, Ja!" und 'Ach du Scheiße, Nein!' als die Antwortmöglichkeiten angeboten werden?" - dachte Maria. Sie merkte das steigende Interesse von Haien an den Mann im Tauchanzug und da sie gar nicht wissen wollte, mit welchem Ausdruck das Mädchen diesen langsam zu einer Tragödie entwickelnden Heiratsantrag kommentiert, schaltete sie ihren Fernseher auf RTL um, wo der brillentragende Günther Jauch eine kleine mollige Frau gerade fragte, in welchem Land die Klobürste erfunden worden ist.

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Frauentag

Viktor Reimer mochte den internationalen Frauentag schon immer.

Als er noch in der Schule war, waren es jedes Jahr die Jungs, die Geschenke zuerst bekamen - zum Tag der sowjetischen Armee am 23. Februar. Die Mädchen jagten die zukünftigen Verteidiger des Vaterlandes aus dem Klassenraum heraus und legten jedem auf den Tisch ein Geschenk. Die Geschenke bestanden meistens aus einer "Sei bereit das Vaterland zu verteidigen!"-Karte (mit individuellen Glückwünschen, oft in einer Gedichtform) und etwas, was selbst von Mädchen gebastelt wurde und schön eingepackt war.

Zwei Wochen hatten dann die Jungs um zurückzuschlagen - abhängig von der Qualität, Volumen und Kreativität von Mädchengeschenken musste ein Konzept für die Gegengeschenke erstellt und realisiert werden. Es gab allerdings 2 Probleme - erstens konnten die Jungs nicht so viel Geld wie die Mädels sammeln, weil die immer in der Minderheit in der Klasse waren, zweitens hatten sie keinen Bock kreativ zu sein. Am Ende kam immer etwas billiges heraus - eine "Alles Gute zum internationalen Frauentag"-Karte mit einem Standardtext und etwas für die Schule - ein Kugelschreiber oder ein Zeichenblock.

In der fünften Klasse hatte Viktor es satt, so einfallslos zu sein. Er zeichnete auf einem Blatt Papier eine schöne Sonnenblume und schenkte sie am 8. März heimlich nach der offiziellen Geschenkübergabe Ajsulu - dem kasachischen Mädchen, das in seiner Nachbarschaft wohnte und zu dem er sich seit der vierten Klasse hingezogen fühlte. Genauso heimlich schenkte Ajsulu ihm an diesem Tag auf dem Heimweg einen Kuss. Am nächsten Morgen beschloss Viktor sie zu heiraten.

Als Viktor nach Deutschland kam, überrollte ihn die ganze Frauentagfeindlichkeit seiner neuen Heimat. Die Tatsache, dass man an diesem Tag arbeiten muss, anstatt Rosen auf dem Markt zu kaufen und Zeit in Gesellschaft von hübsch geschminkten Frauen und Salat "Oliw'je" zu verbringen, störte ihn sehr. Sein Vorschlag Geld für die Blumen zu sammeln fand bei seinen männlichen Kollegen kein Verständnis. Verzweifelt schickte er eine elektronische Postkarte mit Gratulationen an alle in der Firma. Die zahlreichen "Danke Schön"-Antworten bekräftigten ihn in seinem Glauben, das Richtige getan zu haben. Eine Antwort von einem seiner Kollegen, wo "Go home!" mit einem Smiley dahinter stand, beschloss Viktor zu ignorieren. Seitdem gehörte an jedem 8. März ein Blumenstrauß an den Tisch der Empfangsdame.

An jenem neuen Frauentag wachte Viktor auf und fühlte sich deutsch genug, um die traditionelle Gratulationsprozedere sein zu lassen. Als er aber an einem Blumenladen auf dem Weg zur Arbeit vorbeiging, fühlte er sich plötzlich unwohl und musste schneller laufen. Erst am Arbeitsplatz konnte Viktor sich entspannen - nichts im Verhalten von seinen Kollegen verriet das Besondere an heutigem Tag.

Erst wenn Viktor sich eine Tasse Kaffe holen wollte, traf er im Flur Barbara aus dem Call-Center. Sie schluchzte laut und beschwerte sich, dass gerade eben der Systemadministrator ihre neue Bluse hässlich fand. Zurück am Platz las er die E-Mail von einer anderen Kollegin. "Hat es was zu bedeuten, dass uns heute niemand zum internationalen Frauentag gratuliert?" - fragte sie. Anstatt Kaffee zu trinken, rannte Viktor in den Blumenladen los und ließ sich dort von der Verkäuferin einen bunten Strauß zusammenstellen. Als er in den Call-Center hereinmarschierte, fühlte er sich wie Don Quijote - Blumen, anstatt eines Speeres, umgehend von Dutzenden lächelnder Dulcineas.

Der Rest des Tages verbrachte Viktor mit den Glückwünschen an die zahlreichen weiblichen Bekannten. Er kam spät nach Hause und setzte sich müde auf sein Sofa. Sein Handy klingelte kurz - es war eine SMS von seiner Ex-Freundin Ljuba Motschalowa. Sie meinte, sie hätte es nicht erwartet, dass er es vergessen konnte, ihr zum Frauentag zu gratulieren. Kurz danach rief sie ihn an. Viktor stellte sich vor, wie sie in ihrer kleinen Küche stand, feierlich geschminkt, im roten Kleid und den Schuhen mit hohen Absätzen, in einer Hand - leere Schüssel für den Nachschub von Salat "Oliw'je", das Telefon in der anderen. Er hatte keine Lust mit ihr zu sprechen und machte das Handy aus. Dann ging er zum Buchregal und nahm daraus ein Fotoalbum. Er fand das alte, teils schon gelbliche Klassenfoto von der Klasse 5 "b" der Kirow's Schule Nr. 83. Er schaute auf die Gesichte seiner Klassenkomilitonen und aus irgendeinem Grund fiel ihm ein Spruch aus alten Zeiten ein. "Kinder sind Blumen unserer Zukunft" hieß es.

Links in der zweiten Reihe, neben Nelken und Narzissen, zwischen Tulpen und Kamillen, stand da eine Sonnenblume und lächelte ihn an.



 
Pinselman's Sprachreform

Oleg Pinselman trieb seine Deutschlehrerin in Wahnsinn.

Es war selbstverständlich nicht so, dass jeder Teilnehmer des Deutschkurses für Spätaussiedler beim Sprechen immer den richtigen Artikel benutzt hat. Es war eher anders - das Ratespiel "Welchen Artikel verwende ich denn mit diesem Substantiv?" endete oft mit der klassischen 33% Wahrscheinlichkeit. Gelernte Germanistin Frau Tropf, die noch zu DDR-Zeiten 2 Jahre lang in Moskau studiert und beinah einen Kubaner aus dem Patrice-Lumumba-Institut geheiratet hat, korrigierte fleißig Fehler ihrer Schüler. Sie schrieb mit Kreide in großen Buchstaben jeden Substantiv mit dem zugehörigen Artikel an die Tafel.

Oleg war allerdings der einzige in der Klasse, der nicht verstehen konnte, warum bestimmte Gegenstände die anderen, als im Russischen, grammatischen Geschlechte haben. Warum sollte ein Baum maskulin sein, wenn "derewo" in Wirklichkeit neutral ist? Ist es nun jemandem verständlich, wenn ein Mädchen, grammatisch gesehen, ein neutrales Geschlecht trägt? Pinselman verteidigte voller Eifer jeden von ihm verwendeten Artikel, den Frau Tropf für falsch erklärt hat, was oft zu langen Diskussionen führte. Am Ende gab die Lehrerin immer auf: "Fahren Sie mit Ihrer Aufgabe fort, Herr Pinselman".

Da es nicht nur Frau Tropf war, die das Benutzen von Geschlechten in seiner Sprache bemängelte, irritierte Pinselman nur wenig. Er redete immer öfter von einer Sprachreform, die die Beherrschung der deutschen Sprache revolutionär vereinfachen sollte. Ihm war auch klar - um diese Reform durchsetzen zu können, braucht man Unterstützung der Bevölkerung, die schon vor seiner Einwanderung Deutschland bewohnt hat. Deswegen strich Pinselman in seinem zweiten Reformentwurf den Vorschlag die russichen grammatischen Geschlechte zu übernehmen und schlug kompromissbereit vor, leblose Gegenstände, deren Geschlecht schwer festzustellen war, als maskulin anzunehmen, also den Artikel "der" zu benutzen.

Nach einem Monat Arbeit schickte Pinselman einen vierzigseitigen Reformentwurf an die Gesellschaft für deutsche Sprache. Während er auf die Antwort wartete, versuchte er seine Reformideen in seiner Umgebung zu verbreiten. Seinen Nachbarn Herrn Weber wählte er als Versuchsperson, um die Akzeptanz der Form zu testen. In vielen abendlichen Gesprächen, die fast ausschließlich nach Fernsehnachrichten auf aneinander liegenden Balkonen beim Rauchen "einen nach dem Tagesschau" stattfanden, benutzte Pinselman immer wieder auf seiner Reform vorgesehenen Stellen Maskulin. Zu seinem Erstaunen fand er heraus, dass es ziemlich oft vorkam, dass die nach klassischen Deutschregeln falsch verwendeten von Pinselman Artikel gleich danach von Weber wiederholt wurden. So antwortete sein Nachbar, zum Beispiel, auf die Frage: "Was meinst du, sollte Angie diesen Land regieren?" mit dem Satz "Dieser Land ist schon oft von Verrückten regiert worden, aber nie von einer Frau". Das bestätigte Pinselman in seinen Reformplänen.

Die Antwort auf sein Reformkonzept ließ nicht lange auf sich warten - schon nach ein paar Wochen bekam Pinselman Post. Im Brief stand, dass die Ideen von Pinselman ziemlich interessant seien und die Gesellschaft schon immer für die Entwicklung der Sprache sich eingesetzt hat. Am Ende des Briefes lud man Pinselman zu einem Seminar, bei dem die aktuellen Probleme der Sprache umfangreich diskutiert werden sollten. Pinselman war sehr stolz auf sich und rief gleich Frau Tropf an, um über die spannenden Neuigkeiten zu erzählen.

In darauf folgenden Tagen bereitete er sich sehr gründlich zum Seminar vor und als sein Freund aus Kaliningrad anrief, um ihn zu seinem Geburtstag einzuladen, wollte er zuerst absagen. Pinselman's Frau Marina, die schon lange Sorgen um ihn wegen seinem Projekt machte, überredete ihn aber schließlich, sich eine Pause zu gönnen und seinen Freund zu besuchen.

Im Waggon der russischen Eisenbahn war es ziemlich gemütlich. Die junge Schaffnerin in ihrer Uniform hätte locker Konkurrenz den besten Lufthansa-Flugbegleiterinnen machen können. Das Bier "Königsberg" im Angebot war sehr preiswert und ziemlich stark. Pinselman fehlte nur an Unterhaltung - der alte Mann in seinem Abteil schien die Grundsätze seiner Reform nicht verstanden zu haben und ging früh schlafen. Als Pinselman sein Abteil verließ, um im Gang frische Luft zu schnappen, fiel ihm eine kleine Informationstafel an der Wand des Waggons auf. Dort stand ein Sicherheitshinweis in 3 Sprachen geschrieben - auf russisch, englisch und auch auf deutsch: "Bei dem Gefahr den Glas mit dem Hämmer zerbrechen". Pinselman war klar, dass der Satz genau nach seinen neuen Regeln verfasst wurde, was ihn zuerst fast euphorisch machte. Ihm war aber auch bewusst, dass dieser Hinweis von jemandem übersetzt wurde, der nicht viel Ahnung von der deutschen Sprache hatte. Jemandem, der aus einem Wörterbuch die einzelnen Wörter einfach herauszog und daraus einen Satz bastelte. War nun seine Reform für solche, die sich keine Mühe beim Lernen geben? Er musste an Frau Tropf denken und zum ersten mal machte ihm der Gedanke, dass seine Reform sich durchsetzen könnte, keine Freude mehr.

Um sich wieder in die Stimmung zu bringen, beschloß Pinselman mit der hübschen Zugbegleiterin ein wenig zu flirten. Er rauchte eine Zigarette und kehrte in sein Abteil zurück. Dort holte er aus seinem Koffer eine Tafel Schokolade heraus und lief in der leichten Aufregung zu dem anderen Ende des Waggons, wo ein schwaches Licht aus der Türspalte vom letzten Abteil auf den roten Läufer fiel.



 
Bajga de France

"Bajga", sagte Maria Elbermann, "Alaman Bajga", als sie zum ersten mal Tour de France im Fernsehen sah.

Für Maria, die in einem deutsch-kasachischen Dorf aufgewachsen ist, war dieses Fahrradrennen nur eine andere Form des populären Reitspieles, das vor allem bei Heirat- und Gedenkfeiern der Kasachen stattfand. Die Räder ersetzten Pferde und Jungen, die beim Reiten ein weißes Hemd und ein rotes Kopftuch getragen haben, wurden jetzt in die bunten Mannschaftstrikots verpackt. Insofern war es für Maria auch selbstverständlich, dass eine der führenden Figuren bei der Tour in Petropawlowsk geboren wurde und ein Türkistrikot in nationalen kasachischen Farben hatte.

Wenn Bajga in Marias Sowchose veranstaltet wurde, fieberten alle nach dem Sieg von Bulat, dem schnellsten Reiter im ganzen Dorf. Als Bulat noch ganz jung war, hat er es einmal geschafft, der erste zu sein. In allen Jahren nach diesem Sieg konnte er aber nur als zweiter ins Ziel nach Ermek, dem Jungen aus dem Nachbardorf, kommen. "Менiн тулпарым жаксы шабады, бiрак мен Ермекпен калгым келдi", pflegte Bulat immer zu sagen, wenn jemand ihn fragte, was nun diesmal nicht stimmte.

Maria wüsste auch eine zeitgemäße Übersetzung von diesem Satz. Es könnte so heißen: "Meine Beine waren gut, ich bin aber bei Lance geblieben".



 
Ein Märchen über Aussiedler

Friedrich Gramm kam mit dem Begriff "Aussiedler" nicht zurecht.

Was bedeutet das Wort "Aussiedler", könnte Gramm sich denken - so etwa wie es in seinem Langenscheidt-Wörterbuch steht: aussiedeln - die Bewohner eines Gebiets veranlassen oder dazu zwingen, sich an einem anderen Ort niederzulassen. Er wusste bloß nicht genau, um welches Aussiedeln es sich bei ihm handelt.

Heißt er nun ein Aussiedler, weil sein Vorfahr Jakob Gramm im 19. Jahrhundert aus der Gegend bei Stuttgart nach Georgien auf der Suche nach besserem Leben und eigenem Land ausgewandert ist? Oder war er so einer, weil die Familie von seinen Eltern am Anfang des zweiten Weltkrieges aus dem deutschen Dorf Weinberg in der Nähe von Tbilisi, wo er geboren wurde, in die weite kasachische Steppe vertrieben worden ist? Oder kommt diese Bezeichnung daher, dass er Ende der neunziger nach Deutschland gekommen ist?

Das Ganze war eigentlich noch kniffliger, weil, offiziell gesehen, Gramm ein "Spätaussiedler" war. Dieses "spät" klang irgendwie negativ, wie "zu spät" und brachte Gramm auf Gedanken, es hätte etwas in seinem und seinen Vorfahren Leben eher passieren sollen. Musste nun sein Urgroßvater noch eher losmachen und nicht bis 1860 warten? Hätte Stalin noch vor dem Krieg den Befehl für Verschleppung der Deutschen von Kaukasus abgeben müssen? Sollte Gramm gleich nach Perestroika oder noch davor nach Deutschland kommen?

Zu seinem Staunen fragte keiner von Einheimischen danach, wenn er sich als ein "sogenannter Aussiedler" vorstellte. Sie schienen es alle zu wissen und vielleicht könnte Gramm sich mal bei ihnen danach erkundigen. Er hätte das auch gemacht, wenn er selber nicht zu diesen Spezies angehörte, was das Ganze zu einer peinlichen Angelegenheit für ihn machte.

So kam es dazu, dass als seine siebenjährige Enkeltochter ihn fragte: "Opa, wer sind denn Aussiedler?", wusste Gramm nicht, was er ihr erzählen sollte. Er hielt gerade in seinen Händen die Bild-Zeitung und kämpfte durch die Schlagzeilen durch. Unter dem Titelartikel "Untergang Deuschlands: was bringt die Deutschen zuerst um - mörderische Sonne oder Frau Kanzlerin?" stand ein Photo von der nackigen Susi aus Potsdam. Als die Enkelin ins Zimmer hereinkam und ihn mit ihrer Frage überraschte, versuchte er die Zeitung so auf den Tisch zu legen, damit das nicht jugendfreie Photo von Susi nicht zu sehen war.

Gramm runzelte die Stirn. "Die Aussiedler, die kommen...", fing Gramm an und wußte gleich nicht weiter. "Aus Siedler?", fragte das Mädchen. "Ganz genau!", Gramm war ihr für diesen Tipp sehr dankbar. "Es war so. Es gab mal einen schönen Ort, wo ein fröhliches Volk glücklich lebte. Dieser Ort hieß Siedler und dort wohnten auch unsere Urgroßeltern". "Hattest du auch einen Großvater?", fragte die Enkelin. "Ja, natürlich", antwortete Gramm und fuhr fort: "Sie machten Wein, buken Brot und zogen ihre Kinder groß."

"Eines Tages kam aber Not in das Dorf, sie zwang viele sich an einem anderen Ort niederzulassen, weit weg von der Heimat. Dort fingen unsere Großeltern ein neues Leben an, bauten neue Häuser, pflanzten neue Weinstöcke und bestellten neue Felder. Sie konnten wieder in Freude leben, aber das Unglück ließ nicht lange auf sich warten. Es zwang sie wegzuziehen und ...". "Sich an einem anderen Ort niederzulassen?" - riet die Enkeltochter. "Ja, und dann wiederholte sich die Geschichte wieder".

Das Mädchen schaute Gramm in die Augen und dann, nach einer kleinen Pause, fragte: "Opa, werden wir auch bald wegziehen und uns an einem anderen Ort niederlassen?". "Nein, nein, natürlich nicht" - versicherte ihr Gramm, "wir sind endgültig angekommen". Sein Blick fiel dabei auf die Zeitung auf dem Tisch, wo die Abbildung der unheimlichen roten Sonne und ein Stück des braunen Schenkels von Susi zu sehen waren. Gramm könnte schwören, dass noch vor zwei Minuten ihre Beine nicht so dunkel ausgesehen haben.



 
You know I'm black

Viktor Reimer war neidisch auf Ausländer.

Genau gesagt, auf die Ausländer, die man gleich auf den ersten Blick und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Nichtdeutschen zuordnen kann. Zum Beispiel auf solche, die einen Turban tragen, dunkle Haut besitzen oder sich so laut und emotional in ihrer Muttersprache unterhalten, dass kein Zweifel daran besteht, dass sie nicht hier um die Ecke in Dippoldiswalde geboren wurden.

Der Grund für diesen Neid bestand darin, dass Viktor es hasste, von jedem als Deutscher angenommen zu werden und immer mit dem Schreck auf die Sekunde zu warten, wenn er seinen Mund aufmachen soll und dem Gesprächspartner seine nicht deutsche Herkunft verraten wird. Es war natürlich nicht so, dass Viktor etwa Angst hatte, gleich verprügelt zu werden (man spürte eher Angst auf der anderen Seite, etwas nicht korrektes, geschweige ausländerfeindliches zu sagen) oder dass die anderen gleich seinen Akzent nachmachen versuchten und vor Lachen platzten. Viktor merkte aber jedes mal, dass die ein paar Wörter, die er von sich gab, dazu führten, dass die Emotionsausdrücke, die man vom Gesicht seines Gesprächpartners ablesen konnte, sich immer in der folgenden Reihenfolge wechselten: Überraschung ("wo kommt er denn her?"), leichte Panik ("sind sie freundlich zu Menschen?"), Enttäuschung ("sah aber genau wie wir aus"), Distanz ("wir tun euch nichts, aber ihr sollt uns auch nichts böses tun"). Dagegen fanden es alle einfach entzückend, wenn Viktor's Freund Bomu aus Nigeria jemanden einfach mit einem normalen "Guten Tag" begrüßte.

Viktors Versuche etwas in der Kleidung zu ändern, um damit mehr als Ausländer aufzufallen, brachten wenig. Seine alte Armbanduhr "Wostok", von seinem Vater zum Abschluss der fünften Klasse geschenkt, war weit weniger auffällig, als die großen Wecker von "Seiko" oder die bunten Uhren von "Swatch". In einer richtigen Pelz-"Schapka" herumzulaufen oder sich goldene Vorderzähne machen zu lassen ginge auch schlecht, wegen der milden deutschen Klimaeigenschaften bzw. Notwendigkeit wieder den Mund aufzumachen um seine Ausländerzugehörigkeit zu beweisen.

So ist es dazu gekommen, dass Viktor mit Gedanken spielte, sich operieren zu lassen, um ein Stück schwarzer auszusehen. Abgesehen davon, dass laut Studien viele Frauen auf etwas dunklere Haut stehen sollten, wollte er in der ersten Linie die optische Täuschung, er wäre ein Deutscher, loszuwerden. Das Problem bei der Sache bestand allerdings darin, dass im Kopf von Viktor so eine Operation ziemlich eng mit der Person vom gewissen skandalösen amerikanischen Popstar verbunden war.

Einer Nacht träumte er, dass man ihn als Angeklagten in einer schwarzen Limousine in einen Gerichtssaal brachte. Ihm wurde vorgeworfen, seinen eigenen Kater Kotja zu belästigen und mit Leckereien zu unanständigen Sachen gezwungen zu haben. In Zeugen von der Anklage standen schwarz-graue und immer schwangere Katze von seinem Nachbarn Herrn Rüssler und eine zickige Frau mit der großen Hornbrille aus dem Tierschutzverein Leipzig. Alle Versuche von Viktor seine Unschuld zu beweisen wurden vom Richter einfach ignoriert. Noch dazu saß die Nase von Viktor irgendwie nicht stabil genug und wollte ständig von seinem Gesicht wegrutschen. Als das Opfer selber über den angeblichen Missbrauch erzählte und einer von Geschworenen aufsprang, auf Viktor zeigte und "Hängt den Schurken auf!" schrie, schmetterte Viktor in voller Aufregung seine Nase auf Kotja, der sie schnell mit den Zähnen auffing und gleich danach verschwand. Der Richter fiel in Ohnmacht, als er den Angeklagten anblickte, und alle Anwesenden fingen an wie verrückt zu schreien. Viktor wachte auf.

"Ist was?" - fragte ihn seine Freundin, die neben ihm im Bett lag. Sie las gerade ein Buch und streichelte dabei ihren Kater. "Schlecht geträumt", antwortete Viktor, schaute kurz Kotja in die Augen und schlief gleich wieder ein.



 
Männerfreundschaft

Oleg Pinselman quälte die Frage, ob Angela Merkel sich mit Wladimir Putin richtig befreunden kann.

Pinselman fand die Freundschaft zwischen Schröder und Putin schön und außerdem sehr wichtig für die russisch-deutschen Beziehungen. Die angenehme Stimme des Kanzlers, sein Hochdeutsch, das Pinselman immer verstand und sehr bewunderte, und eben diese Freundschaft zwischen den beiden großen Machthabern - das waren die entscheidenden Faktoren, die dem Kanzler Pinselman's Stimme bei der ersten Wiederwahl gesichert haben. Pinselman war zwar bereit auch bei den nächsten vorgezogenen Wahlen Schröder zu unterstützen, es sah aber danach aus, dass nicht alle Einwohner der Bundesrepublik auf Kanzlers Stimme und seine Kumpelschaft mit Putin so viel Wert legten, wie er es tat.

Es hieß also, dass eine Frau den höchsten politischen Posten in Deutschland bekommen wird und das machte Pinselman Sorgen. Wird es zwischen ihr und Putin weiter, als bloßes Händeschütteln gehen? Ist es nun vorstellbar, dass die beiden sich oft miteinander treffen, ungezwungen per Telefon plaudern, unanständige Witze über George W. Busch reißen, dass sie gemeinsam angeln gehen und dabei ein Gläschen Wodka kippen? Pinselman hatte zwar persönlich keine Erfahrung als Politiker und wollte auf keinen Fall sexistisch sein, aber er zweifelte daran.

Soweit Pinselman sich erinnern kann, war es ein einziges Mal in seinem Leben, als eine Frau eine bestimmte Beziehung, die eigentlich Männerteilnahme voraussetzt und erwartet, in eine positive Richtung änderte. Es war noch in der Schule in Karaganda.

Als alter Sportlehrer Ewgenij Petrowitsch, dessen Beine (angeblich von Reiten) einen wohlformigen Kreis bildeten, pensioniert wurde, kündigte die Schuldirektorin seinen Sohn Andrej Ewgenievitsch, dessen Beine (angeblich genetisch bedingt) ebenfalls einen Kreis bildeten, als Nachfolger an. Es kam aber anders - eines Tages stand vor der Klasse eine junge schlanke schwarzhaarige Frau und teilte allen mit, sie sei ihre neue Sportlehrerin. Es war in der ganzen langen Geschichte der Schule die erste Frau, die Sport unterrichten durfte.

Pinselman war auf der Stelle in sie verliebt. Die einzige Chance möglichst länger in ihrer Nähe zu bleiben war eine gute sportliche Leistung. Er strengte sich an und schon bald war er der erste in 2000m-Lauf und warf beim GTO-Wettkampf seine Handgranate so weit, dass sogar immer missgelaunter Oberst Serik Asipovitsch, der in der Schule für die Vorbereitung zum Militärdienst veranwortlich war, meinte, dass man mit solchen Jungs noch 1941 vor Smolensk die deutschen Truppen stoppen können hätte.

Nachts tippte Pinselman auf der Schreibmaschine seines Vaters eine Liebeserklärung, die er demnächst seinem Objekt der Begierde übergeben wollte. Es kam aber anders - bald flog die unverheiratete Sportlehrerin aus der Schule heraus, weil sie schwanger wurde (Gerüchten nach von Andrej Ewgenievitsch). Pinselman war am Boden zerstört. Er ließ sich von seinem Onkel, der Arzt war, vom Sportunterricht befreien. Er konnte die Gestalt von Andrej Ewgeniewitch, der den Sportunterricht übernahm, nicht mehr ertragen.

So saß Pinselman auf seinem Fernsehsessel, wartete auf die Tagesschau, um sich von Ulrich Wickert eine geruhsame Nacht wünschen zu lassen und fragte sich, ob diese Geschichte aus seiner Kindheit auf irgendeine Weise auf Putin mit Merkel übertragen werden könnte.

Wickert war heute nicht da. Im Fernsehstudio saß und lächelte ihn nett an - Anne Will. Zu seinem eigenen Staunen war Pinselman sehr froh darüber. Er lächelte Anne Will zurück und rückte seinen Sessel näher an den Fernseher.



 
Tag des Sieges

Maria Elbermann hatte einen merkwürdigen Traum.

Ihr schien, dass am 60. Jahrestag vom Ende des Zweiten Weltkrieges alle Staatsführer, von USA und Frankreich bis zu Deutschland und Japan, sich in Moskau versammelten. Sie saßen auf dem Roten Platz vor Lenin's Mausoleum und empfingen eine festliche Militärparade. Es lief eine Live-Fernsehübertragung auf die ganze Welt.

Als Präsident Putin zum Mikrofon ging, um Rede zu halten, passierte etwas unerwartetes. Kanzler Schröder zog aus der Innentasche seines Sakkos eine Wasserpistole heraus und fing an, den französischen Präsidenten Chirac mit Wasser zu bespritzen. In der anderen Hand hielt der Kanzler eine Hülse von einem Kugelschreiber und bespuckte daraus mit erstaunlicher Geschwindigkeit Putin, der mit dem Rücken zu ihm stand und seine feierliche Rede von einem Blatt vorlas.

Währenddessen wurde George W. Bush vom japanischen Oberhaupt mit selbstgefalteten Origami-Flugzeugen attackiert. Die Marschmusik hörte plötzlich auf, die gerade noch marschierten Soldaten blieben stehen, Veteranen sprangen von ihren Sitzen auf und sogar sonst ununterbrochen berichtende ARD-Reporterin hielt vor Staunen für ein paar Minuten ihren Mund.

Maria dachte, so sollte eben das Ende der menschlichen Zivilisation kommen, plötzlich und genau in dem Moment, wenn man es am wenigstens erwartet und besonders optimistisch in die Zukunft blickt. Dann ließen aber Schröder und Koizumi ihre Waffen fallen, schlugen sich vor Lachen auf Schenkel und lachten so laut und so ansteckend, dass jeder von restlichen Machthabern und bald der ganze Rote Platz mitmachte.

Maria wusste nicht, wie das Ganze zu bewerten ist und schaltete in ihrem Traum auf RTL um, wo Günther Jauch einen Mann mit der Glatze gerade fragte, wie viele Finger wohl die neugeborenen Koala-Babys haben.




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