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[ lüstige Geschichten aus dem Leben von Aussiedlern]
 
Pinselman's Sprachreform

Oleg Pinselman trieb seine Deutschlehrerin in Wahnsinn.

Es war selbstverständlich nicht so, dass jeder Teilnehmer des Deutschkurses für Spätaussiedler beim Sprechen immer den richtigen Artikel benutzt hat. Es war eher anders - das Ratespiel "Welchen Artikel verwende ich denn mit diesem Substantiv?" endete oft mit der klassischen 33% Wahrscheinlichkeit. Gelernte Germanistin Frau Tropf, die noch zu DDR-Zeiten 2 Jahre lang in Moskau studiert und beinah einen Kubaner aus dem Patrice-Lumumba-Institut geheiratet hat, korrigierte fleißig Fehler ihrer Schüler. Sie schrieb mit Kreide in großen Buchstaben jeden Substantiv mit dem zugehörigen Artikel an die Tafel.

Oleg war allerdings der einzige in der Klasse, der nicht verstehen konnte, warum bestimmte Gegenstände die anderen, als im Russischen, grammatischen Geschlechte haben. Warum sollte ein Baum maskulin sein, wenn "derewo" in Wirklichkeit neutral ist? Ist es nun jemandem verständlich, wenn ein Mädchen, grammatisch gesehen, ein neutrales Geschlecht trägt? Pinselman verteidigte voller Eifer jeden von ihm verwendeten Artikel, den Frau Tropf für falsch erklärt hat, was oft zu langen Diskussionen führte. Am Ende gab die Lehrerin immer auf: "Fahren Sie mit Ihrer Aufgabe fort, Herr Pinselman".

Da es nicht nur Frau Tropf war, die das Benutzen von Geschlechten in seiner Sprache bemängelte, irritierte Pinselman nur wenig. Er redete immer öfter von einer Sprachreform, die die Beherrschung der deutschen Sprache revolutionär vereinfachen sollte. Ihm war auch klar - um diese Reform durchsetzen zu können, braucht man Unterstützung der Bevölkerung, die schon vor seiner Einwanderung Deutschland bewohnt hat. Deswegen strich Pinselman in seinem zweiten Reformentwurf den Vorschlag die russichen grammatischen Geschlechte zu übernehmen und schlug kompromissbereit vor, leblose Gegenstände, deren Geschlecht schwer festzustellen war, als maskulin anzunehmen, also den Artikel "der" zu benutzen.

Nach einem Monat Arbeit schickte Pinselman einen vierzigseitigen Reformentwurf an die Gesellschaft für deutsche Sprache. Während er auf die Antwort wartete, versuchte er seine Reformideen in seiner Umgebung zu verbreiten. Seinen Nachbarn Herrn Weber wählte er als Versuchsperson, um die Akzeptanz der Form zu testen. In vielen abendlichen Gesprächen, die fast ausschließlich nach Fernsehnachrichten auf aneinander liegenden Balkonen beim Rauchen "einen nach dem Tagesschau" stattfanden, benutzte Pinselman immer wieder auf seiner Reform vorgesehenen Stellen Maskulin. Zu seinem Erstaunen fand er heraus, dass es ziemlich oft vorkam, dass die nach klassischen Deutschregeln falsch verwendeten von Pinselman Artikel gleich danach von Weber wiederholt wurden. So antwortete sein Nachbar, zum Beispiel, auf die Frage: "Was meinst du, sollte Angie diesen Land regieren?" mit dem Satz "Dieser Land ist schon oft von Verrückten regiert worden, aber nie von einer Frau". Das bestätigte Pinselman in seinen Reformplänen.

Die Antwort auf sein Reformkonzept ließ nicht lange auf sich warten - schon nach ein paar Wochen bekam Pinselman Post. Im Brief stand, dass die Ideen von Pinselman ziemlich interessant seien und die Gesellschaft schon immer für die Entwicklung der Sprache sich eingesetzt hat. Am Ende des Briefes lud man Pinselman zu einem Seminar, bei dem die aktuellen Probleme der Sprache umfangreich diskutiert werden sollten. Pinselman war sehr stolz auf sich und rief gleich Frau Tropf an, um über die spannenden Neuigkeiten zu erzählen.

In darauf folgenden Tagen bereitete er sich sehr gründlich zum Seminar vor und als sein Freund aus Kaliningrad anrief, um ihn zu seinem Geburtstag einzuladen, wollte er zuerst absagen. Pinselman's Frau Marina, die schon lange Sorgen um ihn wegen seinem Projekt machte, überredete ihn aber schließlich, sich eine Pause zu gönnen und seinen Freund zu besuchen.

Im Waggon der russischen Eisenbahn war es ziemlich gemütlich. Die junge Schaffnerin in ihrer Uniform hätte locker Konkurrenz den besten Lufthansa-Flugbegleiterinnen machen können. Das Bier "Königsberg" im Angebot war sehr preiswert und ziemlich stark. Pinselman fehlte nur an Unterhaltung - der alte Mann in seinem Abteil schien die Grundsätze seiner Reform nicht verstanden zu haben und ging früh schlafen. Als Pinselman sein Abteil verließ, um im Gang frische Luft zu schnappen, fiel ihm eine kleine Informationstafel an der Wand des Waggons auf. Dort stand ein Sicherheitshinweis in 3 Sprachen geschrieben - auf russisch, englisch und auch auf deutsch: "Bei dem Gefahr den Glas mit dem Hämmer zerbrechen". Pinselman war klar, dass der Satz genau nach seinen neuen Regeln verfasst wurde, was ihn zuerst fast euphorisch machte. Ihm war aber auch bewusst, dass dieser Hinweis von jemandem übersetzt wurde, der nicht viel Ahnung von der deutschen Sprache hatte. Jemandem, der aus einem Wörterbuch die einzelnen Wörter einfach herauszog und daraus einen Satz bastelte. War nun seine Reform für solche, die sich keine Mühe beim Lernen geben? Er musste an Frau Tropf denken und zum ersten mal machte ihm der Gedanke, dass seine Reform sich durchsetzen könnte, keine Freude mehr.

Um sich wieder in die Stimmung zu bringen, beschloß Pinselman mit der hübschen Zugbegleiterin ein wenig zu flirten. Er rauchte eine Zigarette und kehrte in sein Abteil zurück. Dort holte er aus seinem Koffer eine Tafel Schokolade heraus und lief in der leichten Aufregung zu dem anderen Ende des Waggons, wo ein schwaches Licht aus der Türspalte vom letzten Abteil auf den roten Läufer fiel.




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