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[ lüstige Geschichten aus dem Leben von Aussiedlern]
 
Frauentag

Viktor Reimer mochte den internationalen Frauentag schon immer.

Als er noch in der Schule war, waren es jedes Jahr die Jungs, die Geschenke zuerst bekamen - zum Tag der sowjetischen Armee am 23. Februar. Die Mädchen jagten die zukünftigen Verteidiger des Vaterlandes aus dem Klassenraum heraus und legten jedem auf den Tisch ein Geschenk. Die Geschenke bestanden meistens aus einer "Sei bereit das Vaterland zu verteidigen!"-Karte (mit individuellen Glückwünschen, oft in einer Gedichtform) und etwas, was selbst von Mädchen gebastelt wurde und schön eingepackt war.

Zwei Wochen hatten dann die Jungs um zurückzuschlagen - abhängig von der Qualität, Volumen und Kreativität von Mädchengeschenken musste ein Konzept für die Gegengeschenke erstellt und realisiert werden. Es gab allerdings 2 Probleme - erstens konnten die Jungs nicht so viel Geld wie die Mädels sammeln, weil die immer in der Minderheit in der Klasse waren, zweitens hatten sie keinen Bock kreativ zu sein. Am Ende kam immer etwas billiges heraus - eine "Alles Gute zum internationalen Frauentag"-Karte mit einem Standardtext und etwas für die Schule - ein Kugelschreiber oder ein Zeichenblock.

In der fünften Klasse hatte Viktor es satt, so einfallslos zu sein. Er zeichnete auf einem Blatt Papier eine schöne Sonnenblume und schenkte sie am 8. März heimlich nach der offiziellen Geschenkübergabe Ajsulu - dem kasachischen Mädchen, das in seiner Nachbarschaft wohnte und zu dem er sich seit der vierten Klasse hingezogen fühlte. Genauso heimlich schenkte Ajsulu ihm an diesem Tag auf dem Heimweg einen Kuss. Am nächsten Morgen beschloss Viktor sie zu heiraten.

Als Viktor nach Deutschland kam, überrollte ihn die ganze Frauentagfeindlichkeit seiner neuen Heimat. Die Tatsache, dass man an diesem Tag arbeiten muss, anstatt Rosen auf dem Markt zu kaufen und Zeit in Gesellschaft von hübsch geschminkten Frauen und Salat "Oliw'je" zu verbringen, störte ihn sehr. Sein Vorschlag Geld für die Blumen zu sammeln fand bei seinen männlichen Kollegen kein Verständnis. Verzweifelt schickte er eine elektronische Postkarte mit Gratulationen an alle in der Firma. Die zahlreichen "Danke Schön"-Antworten bekräftigten ihn in seinem Glauben, das Richtige getan zu haben. Eine Antwort von einem seiner Kollegen, wo "Go home!" mit einem Smiley dahinter stand, beschloss Viktor zu ignorieren. Seitdem gehörte an jedem 8. März ein Blumenstrauß an den Tisch der Empfangsdame.

An jenem neuen Frauentag wachte Viktor auf und fühlte sich deutsch genug, um die traditionelle Gratulationsprozedere sein zu lassen. Als er aber an einem Blumenladen auf dem Weg zur Arbeit vorbeiging, fühlte er sich plötzlich unwohl und musste schneller laufen. Erst am Arbeitsplatz konnte Viktor sich entspannen - nichts im Verhalten von seinen Kollegen verriet das Besondere an heutigem Tag.

Erst wenn Viktor sich eine Tasse Kaffe holen wollte, traf er im Flur Barbara aus dem Call-Center. Sie schluchzte laut und beschwerte sich, dass gerade eben der Systemadministrator ihre neue Bluse hässlich fand. Zurück am Platz las er die E-Mail von einer anderen Kollegin. "Hat es was zu bedeuten, dass uns heute niemand zum internationalen Frauentag gratuliert?" - fragte sie. Anstatt Kaffee zu trinken, rannte Viktor in den Blumenladen los und ließ sich dort von der Verkäuferin einen bunten Strauß zusammenstellen. Als er in den Call-Center hereinmarschierte, fühlte er sich wie Don Quijote - Blumen, anstatt eines Speeres, umgehend von Dutzenden lächelnder Dulcineas.

Der Rest des Tages verbrachte Viktor mit den Glückwünschen an die zahlreichen weiblichen Bekannten. Er kam spät nach Hause und setzte sich müde auf sein Sofa. Sein Handy klingelte kurz - es war eine SMS von seiner Ex-Freundin Ljuba Motschalowa. Sie meinte, sie hätte es nicht erwartet, dass er es vergessen konnte, ihr zum Frauentag zu gratulieren. Kurz danach rief sie ihn an. Viktor stellte sich vor, wie sie in ihrer kleinen Küche stand, feierlich geschminkt, im roten Kleid und den Schuhen mit hohen Absätzen, in einer Hand - leere Schüssel für den Nachschub von Salat "Oliw'je", das Telefon in der anderen. Er hatte keine Lust mit ihr zu sprechen und machte das Handy aus. Dann ging er zum Buchregal und nahm daraus ein Fotoalbum. Er fand das alte, teils schon gelbliche Klassenfoto von der Klasse 5 "b" der Kirow's Schule Nr. 83. Er schaute auf die Gesichte seiner Klassenkomilitonen und aus irgendeinem Grund fiel ihm ein Spruch aus alten Zeiten ein. "Kinder sind Blumen unserer Zukunft" hieß es.

Links in der zweiten Reihe, neben Nelken und Narzissen, zwischen Tulpen und Kamillen, stand da eine Sonnenblume und lächelte ihn an.




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